Rezensionen

Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren

wurde in der Erstauflage rezensiert von:

Rechtsanwalt Gerhard Baisch / Bremen

Die Rezension wurde im StV 2001, 429 - 430 veröffentlicht.

Im Jahr 1996 wurden bundesweit 185 Personen wegen vollendeten Mordes, 84 wegen versuchten Mordes und 491 wegen Totschlags verurteilt, Die Wahrscheinlichkeit, in einem dieser Fälle als Verteidiger beauftragt zu werden, scheint nicht eben hoch. Dennoch rechtfertigt sich hierzu eine Veröffentlichung von 500 Seiten in der angesehenen Reihe zur »Praxis der Strafverteidigung«. Das Buch wendet sich insbesondere an Berufseinsteiger und Pflichtverteidiger. Denn der aus wenigen spektakulären Verfahren gewonnene allgemeine Eindruck, auf diesem Feld seien nur einige wenige Spezialisten tätig, trügt: In der Mehrzahl der Fälle treten jedenfalls bis heute »Allrounder« auf, denen es oft am speziellen Know-how fehlt. Dieses Wissen liegt vielfach quer oder seitab zu dem, was zu StGB und StPO kommentiert wird; ad hoc ist es kaum selbständig zu erarbeiten.

Hier schließt das Buch von Stern eine bisher schmerzlich empfundene Lücke und - um es vorwegzunehmen - in insgesamt sehr ansprechender Weise.


Zugleich warnt der Verfasser schon zu Beginn (S. 8) eindringlich, bei der Verteidigung in dieser »Königsdisziplin« mit einschneidenden Folgen für den Beschuldigten nicht leichtfertig die hohen zeitlichen und fachlichen Anforderungen des Mandats zu unterschätzen, gerade auch, wenn es als Pflichtverteidigung vom Gericht übertragen wird. Die Veröffentlichung basiert auf den Erfahrungen des Autors als Strafverteidiger und bei der Anwaltsfortbildung zum Fachanwalt für Strafverteidigung. Er kennt die üblichen Lücken und Schwachstellen, die hier eine effektive Verteidigung erschweren. Das kommt dem Aufriß der abgehandelten Themen und vor allem ihrer Gewichtung sehr zugute. Durchgängig wird Wissen aus angelagerten Gebieten eingearbeitet: aus der Kriminalstatistik, aus Kriminologie und Kriminalistik, sowie insbesondere aus allen Gebieten der Rechtsmedizin. Andererseits sind dem Anspruch nach alle wesentlichen Fragen der Verteidigertaktik abgehandelt.

Das Buch ist mit durchgängigen Randziffern gut zu handhaben und gliedert sich nach der Einleitung und einer kurzen Passage zum Todesbegriff (mit rechtsmedizinischen Kriterien zur Abgrenzung des unnatürlichen Todes vom Suizid) in 4 Teile zum materiellen Strafrecht (S. 18 -147) mit Schwerpunkten aus dem allgemeinen Teil zur Notwehr (S. 91 - 101); zur strafrechtlichen Verantwortung (S. 102 -130) und zu den Maßregeln (S. 131 -147). Unter dem Leitbegriff der »Mitwirkenden am Schwurgerichtsverfahren« werden nach ihren Aufgaben von der Mordkommission über Staatsanwaltschaft und Gericht vor allem die Sachverständigen vorgestellt.

Am Ende dieses Teils (S. 148 - 183) werden die Probleme der Verteidigerbestellung abgehandelt. Zu Recht steht dabei die (regelmäßig unzureichende) finanzielle Absicherung der anfallenden Verteidigerarbeit im Vordergrund. Der Finanzierung durch Verkauf von Exklusivberichten an die Presse steht Stern ablehnend gegenüber.

Im 10. Teil werden die Mitwirkenden am Schwurgerichtsverfahren im Einzelnen vorgestellt. Hier liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf den verschiedenen Sachverständigen, wobei auch eine Reihe kriminalistischer und kriminaltechnischer Fragen angesprochen werden.

Erst nachdem auf diese Weise die Akteure vorgestellt sind, beginnt auf S. 184 der an den Gang des Strafverfahrens angelehnte zentrale Teil 8 »Verteidigung eines Mord- oder Totschlagsverdächtigen« von der Festnahme des Tatverdächtigen bis zur Vollstreckung und Wiederaufnahme (S. 184 - 382). Im umfänglichen Anhang (9. Teil, S. 383 - 456 finden sich zunächst Mustertexte und Beispiele des Verf. - z. B. Haftbeschwerden mit Argumentationen aus dem allgemeinen Teil des Strafrechts, dann (nicht unbedingt erforderliche) Synopsen strafrechtlicher Vorschriften und schließlich einige nützliche gerichtsmedizinische Tabellen und Schaubilder mit Hilfen z. B. zur Todeszeitbestimmung oder Abgrenzung von Verletzungen nach Sturz oder Schlag (sog. Hutkrempenregel). Eine Literaturübersicht für den Sachbeweis nach Stichworten in Auswertung der Zeitschrift Kriminalistik, ein Glossar zu wichtigen rechtsmedizinischen Begriffen und ein erfreulich ausführliches Stichwortverzeichnis schließen das Buch ab (S. 457 - 500).

Auch wenn es vom Verf. (Rdnr. 35) nicht näher begründet wird: Die zunächst überraschend vorangestellte ausführliche Darstellung von Problemen des materiellen Strafrechts ist offenbar wohl überlegt, wie sich später an der Haftbeschwerde wegen Straflosigkeit aus Rechtsgründen (Rdnr. 798 ff.) und den korrespondierenden Mustertexten zeigt. Stern will vermitteln, daß diese Fragen aus Unkenntnis in ihrer Bedeutung für eine erfolgreiche Verteidigung häufig unterschätzt werden. Nicht zufällig entwickelt sich die Rechtsprechung des BGH zu Fragen des Versuchs, der Notwehr und der Teilnahme großteils anhand von Revisionsentscheidungen zu Kapitaldelikten.

Der Reiz der komprimierten und sorgfältig mit Nachweisen aus der Rechtsprechung versehenen Darstellung liegt für den Verteidiger darin, dass Stern fast immer von »praktisch bedeutsamen Fallgruppen« ausgehend die Fragen abhandelt, z. B. mit dem Fall des »Verlassens des Unfallopfers« (Rdnr. 111 ff.) die Abgrenzung zum bedingten Vorsatz und Übertragung der Hemmschwellentheorie auf die Unterlassungsfälle. Außerdem wird die Darstellung, soweit notwendig, gleich ergänzt durch Fragen der Verteidigungstaktik, z. B. zu welchem Zeitpunkt eine Notwehrsituation durch den bisher schweigenden Beschuldigten geltend gemacht werden soll (Rdnr. 282 ff.). Hier vermißt man nur wenig, wie z. B. die Tendenz der Rechtsprechung, »Mordlust« (Rdnr. 84) als Auffangtatbestand für scheinbar motivlose Tötungen anzusehen, was der Verteidiger bei einer Schweigeverteidigung einrechnen muß, oder Ausführungen zur Frage, wie Tötungen aus politischen Motiven bewertet werden.


Unbedingt zu begrüßen ist, dass Stern auch die biologischen Eingangsmerkmale der §§ 20 f. StGB und die Maßregeln, vor allem §§ 63 und 66 StGB, mit verhandelt. Vor allem bei Persönlichkeitsstörungen droht neben der von der Verteidigung angestrebten Anwendung des § 21 StGB hier immer das Schwert der Maßregel. Zu Recht ordnet er die Unterbringung nach § 63 StGB »ganz oben auf der Schwereskala der Rechtsfolgen « ein (nicht selten kann sie ein verstecktes Lebenslänglich bedeuten), so daß ihre Abwendung sogar im Einzelfall Primärziel der Verteidigung werden kann (Rdnr. 390). Ähnliches steht künftig für die Sicherungsverwahrung zu befürchten (Rdnr. 38 und 428 ff.). Allerdings würde man erwarten, daß unter diesem Blickwinkel die »Affekttaten« breiteren Raum in der Darstellung (Rdnr. 355 ff.) einnehmen würden; immerhin ist hier die Anwendung des § 63 StGB trotz Schuldminderung ausgeschlossen. Imponierend umsichtig wieder das Kapitel über Fahrerlaubnisentzug im Kapitalstrafbereich (Rdnr. 451).

Im Kernstück des Buches, dem 8. Teil »Verteidigung eines Mord- oder Totschlagsverdächtigen « muß Stern in der Darstellung das Problem bewältigen, daß sämtliche verfahrensrechtlichen Fragen der Verteidigung wie z. B. Haftfragen oder Psycho-Gutachten sich selbstverständlich auch bei Kapitaldelikten stellen, wenn auch teilweise besonders häufig oder in besonderer Zuspitzung. Nur das spezifische Know-how abzuhandeln, würde eine geschlossene Darstellung erschweren, allerdings vieles für den erfahreneren Verteidiger Selbstverständliche vermeiden.

Hier entscheidet sich Stern strikt für den Weg, die besonderen Probleme einzubetten in eine umfassendere Darstellung, was das Buch für den Berufseinsteiger in Strafsachen überhaupt sehr lesenswert macht.

Aber auch der Kundigere wird überrascht feststellen, daß Stern ihm eine fruchtbare Überprüfung der eingeschliffenen Herangehensweisen abverlangt: Z. B. unter dem Stichwort »Interne Kommunikationsbarrieren« (sc. zwischen Beschuldigtem und Verteidiger, Rdnr. 564 ff.) die vertrauliche Frage nach der »Wahrheit« oder für das erste ausführliche Gespräch mit dem Beschuldigten die Tonbandaufnahme zur Dokumentation (und späteren Beweisbarkeit!) der Genese eines Geständniswiderrufs (Rdnr. 620 ff.). Durchgängig bleibt Stern eng anwendungsorientiert und geizt nicht beim Weitergeben seiner vielfältigen prozessualen Erfahrungen. In allen Facetten stellt er etwa die verschiedenen Wege dar, gegen den erklärten oder versteckten Widerstand der Mordkommission rasch Kontakt mit dem Beschuldigten zur Absicherung seines Schweigerechts zu erhalten, und vergißt dabei weder die Belehrung der Angehörigen, sie sollten vom Recht der Zeugnisverweigerung Gebrauch machen, noch die Warnung des Beschuldigten vor Angaben gegenüber Gerichtshilfe und Mitgefangenen oder in Kassibern (Rdnr. 612 ff.).

Überall finden sich wichtige taktische Hinweise, so zur Frage, ob eine Begutachtung angeregt und der Beschuldigte sich dort zur Sache äußern soll (Rdnr. 864 ff.) oder daß Belehrungsmängel erst in der Hauptverhandlung thematisiert werden sollten (Rdnr. 996 ff.).

Zudem greift Stern auch Fragen auf, wo guter Rat teuer ist: Was tun z. B., wenn parallel zum Strafverfahren Schadensersatzansprüche zivilrechtlich geltend gemacht werden (Rdnr. 899)? (…)

Es wäre vielleicht zum Verständnis der spezifischen Verteidigungsprobleme bei vollendeten Kapitaldelikten hilfreich, an geeigneter Stelle an die Grundstruktur zu erinnern: Das Opfer - sonst wichtigster Zeuge für den Tathergang - ist hier nur noch Spurenträger. Vielfach fehlen andere Tatzeugen, daher der Druck der Mordkommission auf ein frühes Geständnis. Aus ähnlichen Gründen dominiert der Sachbeweis. Dessen Ergebnisse liegen erst nach Monaten vor, bestimmen aber Grenzen für eine nachvollziehbare Beschuldigteneinlassung. Folge: Regelmäßig ist eine Haftbeschwerde nur aus Rechtsgründen empfehlenswert, ohne Einlassung des Beschuldigten.

Etwas zu kurz kommt an einigen Stellen bei Stern die Ermunterung, auch jeweils im Verfahren bestimmte rechtspolitische Auseinandersetzungen voranzutreiben: So z. B. der trotz RiStBV Nr. 5 a andauernde Streit mit der Mordkommission um die meist - aus durchsichtigen Gründen - unterlassene Tonband- bzw. Videoaufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung und die Diskussion um ein daraus herzuleitendes Verwertungsrecht (vgl. Nack, StV 1994, 555 [651] und Tondorf, StraFo 1996, 136 [138]). Oder die Forderung nach sequentieller Wahlgegenüberstellung.

Aber diese kritischen Anmerkungen bestimmen keineswegs den Gesamteindruck: Stern hat nicht nur den Anspruch eingelöst, dem Berufsanfänger in diesem Feld umfassend Orientierung zu geben, sondern seine ganze Berufserfahrung als engagierter Verteidiger niedergelegt zur intensiven Fachdiskussion. Ein wichtiges und darum auch preiswertes Buch.

RA Gerhard Baisch, Bremen

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